Von bösen Geistern und guten Hirten

Tausenden Kindern wird in den Kobalt-Gruben des Kongo jede Zukunft geraubt. Doch mutige Ordensschwestern jammern nicht über „das Elend der Welt“, sondern retten Leben.

Von Christoph Lehermayr
Fotos und Videos: Simon Kupferschmied

allewelt-Autor Christoph Lehermayr und Fotograf Simon Kupferschmied (r.) recherchierten in den Kobalt-Minen des Kongo.

Christoph Lehermayr und Simon Kupferschmied

Zaghaft steigt Denise den steinigen Abhang hinunter. Am Rande einer gewaltigen Mine bahnt sich ein Bach seinen Weg. Das zehn Jahre alte Mädchen blickt scheu um sich. Frauen stehen bis zu den Knöcheln oder gar Knien im schlammigen, braunen Wasser. Sie sieben Steine, die ihre Kinder zuvor aus dem Bett des Baches herausgeklaubt haben und in schweren Kübeln zu ihnen schleppten. Einige der Brocken auf dem Siebbrett schimmern in giftigem Grün, andere ziert eine schwarze-gräuliche Textur. Denise weiß, dass es sich dabei um Spuren von Kupfer und Kobalt handelt, was beides wertvoll macht. Verloren steht das Mädchen da. Was sie jetzt sieht, kennt sie nur zu gut: Buben, die im Geröll graben. Frauen, die kaum mehr ihren Rücken krümmen können. Mädchen, die die „guten“ Steine in Säcke stopfen. Denise hasst alles an diesem Ort.

Denise am Bach, wo sie einst schuftete
Denise am Bach, wo sie einst schuftete

Denn Denise war ein Teil dieses Ortes. Jahrelang. Von der Früh weg, als die Sonne aufging, über Mittag, als sie unerbittlich auf das Mädchen und seine Mutter herunterbrannte, bis zum Abend, als sich die beiden erschöpft nach Hause schleppten – noch eine Stunde lang, zu Fuß, bis zu ihrer Hütte aus Lehm, in der sie oft hungrig einschliefen, obwohl sie den ganzen Tag lang geschuftet hatten. Die Erinnerungen, sie kehren zurück. Der Gesichts-
ausdruck von Denise verkehrt sich zum Gegenteil der lachenden Mickey Maus, die auf ihrem roten Pulli aufgestickt ist. Nur weg von hier! Schnell!

Fluch und Segen

Kolwezi, eine staubige 600.000-Einwohner-Stadt im Südosten der Demokratischen Republik Kongo, ist voll von solchen Plätzen. Und Denise war eines von Tausenden Kindern, dem das Leben dort keine Alternative ließ als zusammen mit seiner Mutter zu graben, zu schürfen und zu schleppen. Denn das Paradoxe ist: Obwohl die Erde unter Kolwezi voll begehrter Reichtümer ist, bleiben die Menschen darüber bitterarm. Vor ihren Augen wird ihr Land ausgeraubt. Und sie selbst sind es, die den Räubern noch beim Raustragen der Rohstoffe helfen müssen, um überhaupt zu überleben. Gerade das weltweit größte Vorkommen an Kobalt, ein Erz, das für Akkus in Computern, Smartphones und E-Autos dringend gebraucht wird, könnte ein Segen für Kolwezi sein – wäre es nicht zu dessen Fluch geworden.

Ordensschwestern auf dem Weg durch Kolwezi
Ordensschwestern auf dem Weg durch Kolwezi

Doch, was tun? „Wer auch nur ein einziges Leben rettet, der rettet die ganze Welt.“ Spätestens mit dem Film „Schindlers Liste“ fand diese Weisheit aus dem Talmud ihren Weg in jedes Poesie-Album. Was aber, wenn es Tausende Leben zu retten gilt? Und was, wenn die, die dazu berufen scheinen, die denkbar schlechtesten Voraussetzungen dafür mitbringen? Weil sie gutmütige Schafe sind, inmitten blutrünstiger Wölfe? Dies ist die Geschichte von Kolwezi, einer Stadt, in der Schafe zu Hirten wurden.

Erstmals in der Schule

Es ist der nächste Tag. Schon um fünf Uhr in der Früh ist Denise aufgewacht, hat sich vor der Hütte gewaschen, wieder den roten Mickey Maus-Pulli angezogen, den sie so mag und stapft nun mit dem Rucksack am Rücken durch ihr Viertel. Überall am Wegesrand stehen gelbe Kanister. Sie dienen zum Wasserholen, denn Brunnen gibt es weit und breit keinen und selbst wenn, wäre dessen Wasser wegen der Minen viel zu verschmutzt. Denise aber gluckst vor Freude. Sie darf zur Schule gehen, schon zwei Jahre lang. Nach einer dreiviertel Stunde Marsch trifft sie in Kanina ein, einem großen Gebäude, in dessen Hof bereits viele Kinder spielen. Denise tollt mit ihnen umher und wäre nicht ihr roter Pulli, sie würde im Getümmel kaum mehr zu sehen sein. Bis eine Glocke ertönt und sie mit den anderen in ihre Klasse läuft. Erste Stunde: Französisch. Verben deklinieren. Denise liebt das, hat sie vorhin erzählt und zum Beweis gleich einmal être und avoir, also sein und haben, vorexerziert.  

Einen Stock über ihr kann eine Frau im Ordensgewand viel von diesem Sein und Haben erzählen. „1.000 Kinder sind allein bei uns hier an dieser Schule“, sagt Schwester Jane Wainoi, „und sie alle haben eine schlimme Zeit in den informellen Minen hinter sich.“ Als die „Schwestern vom Guten Hirten“ vor gut zehn Jahren nach Kolwezi kamen, waren sie erschüttert von der Ausbeutung und Armut. „Es gab eine einzige staatliche Schule für ein paar hundert Kinder aus reichen Familien, sonst nichts. Die Kinder sind für viele der Eltern hier Einkommens-Generierer. Sie müssen beim Kobalt-Schürfen mithelfen, einfach weil keine Wahl bleibt: das Schaufeln ist für die meisten die einzige Möglichkeit, überhaupt an Geld zu gelangen. Die andere Option wäre…“, Schwester Jane wendet den Blick ab und schaut aus dem Fenster, „…ja, sie würden verhungern.“ Also packten die Schwestern an. Schufen aus dem Nichts an einem Ort, der von Missgunst, Gier und Gewalt geprägt ist, das krasse Gegenteil. „Die Idee war von Anfang an, dass die Kinder hier Liebe spüren, nicht nur unsere, sondern die Gottes. Zudem Zuneigung und Sicherheit und natürlich ausreichend zum Essen bekommen.“

Mittagessen in der Schule
Mittagessen in der Schule

Wie zum Beweis rühren Frauen in bunten Röcken im Hof bereits in großen Töpfen. Sie bereiten das Mittagessen für die Kinder zu. Es gibt bukari, den typisch kongolesischen Brei aus Maniok, und dazu reichlich Gemüse. Für Denise und die meisten anderen Kinder wird es die erste und einzige Mahlzeit des Tages bleiben. Weshalb Denise am Vortag auch weinte, als sie ihre Geschichte erzählte und dann begriff, dass sie dadurch das Mittagessen versäumt hatte. Als dicke Tränen über ihre Wangen kullerten, strich ihr Schwester Jane liebevoll über die Schulter und organisierte eine Extraportion Essen für das Mädchen.

Gerettet aus dem Todesschacht

Wer mit den Kindern in der Kanina-Schule spricht, begreift rasch, wie groß ihre Freude und ihr Antrieb sind, jeden Tag hierher kommen zu dürfen. Erst die Kleinen, die zuvor nichts anderes kannten, als Kobaltreste aufzuklauben. Und dann die schon etwas Älteren, die hinabgestiegen waren in die Schächte und dort in eine wahre Hölle gerieten. „Wir waren 20, ja vielleicht 25 Meter unter der Erde“, berichtet Yannick, der heute 20 ist. „Am Morgen trieben wir die Schächte voran, völlig ungesichert. Zu Mittag schliefen wir in der Hitze. Und sobald es dunkel wurde, betranken wir uns mit billigem Fusel. Das musst du tun, denn sonst fehlt dir der Mut, in der Dunkelheit dann hinabzusteigen und die ganze Nacht nach Kobalt zu graben.“

Fragt man Yannick, wie alt er damals war, schnappt er kurz nach Luft und schaut einen mit großen Augen an. „Zwölf? Vielleicht dreizehn?“ Am Morgen, nach einer durchgegrabenen Nacht, gingen die Säcke voller Kobalt-Brocken zu Zwischenhändlern, die sie weiter an die Chinesen im Ort verkauften. Die Schürfer mussten einen Großteil der Einnahmen an ihren „Sponsor“ abliefern. So wird ein Mann mit guten Kontakten zu den Behörden bezeichnet, der dafür sorgt, dass weder Polizei noch irgendwer sonst dumme Fragen stellt. „Das dort unten ist eine kranke Welt für sich“, sagt Yannick heute, „ich habe erlebt, wie Teile des Tunnels einstürzten, dabei Männer gestorben sind und wir stundenlang weiter unsere Spitzhacken ins Gestein schlugen, während hinter uns die Toten lagen.“  Der „Sponsor“, der sich die Kontrolle über einen Schacht gesichert hat, platzierte an dessen Eingängen daher parfümiertes Fleisch. „Er nannte es Zauber-Fleisch, da es böse Geister vertreiben sollte“, sagt Yannick und stutzt, „manche behaupteten, es stamme wohl von Menschen.“

Ohne die Hilfe der Schwestern wäre Yannick wohl entweder selbst in einem der Schächte gestorben oder würde heute noch dort unten schürfen. Sie aber, die immer wieder zu den informellen Minen fahren, holten ihn und Tausende andere Kinder und Jugendliche von dort raus. Mittlerweile geht Yannick ans Kolleg, lernt fleißig und will bald als IT-Techniker in der Hauptstadt Kinshasa arbeiten.

Mutige Managerinnen

Was die Schwestern rund um Ordensoberin Jane Wainoi in den vergangenen Jahren geschaffen haben, ist weit mehr als nur eine Schule. Es ist der einzig mögliche Ausweg an einem der ärgsten Orte der Erde. Aus dem Nichts bauten sie mit Hilfe von Spenden und Stiftungen insgesamt sieben Schulen in und rund um Kolwezi. Sie schufen ein Programm, das dabei hilft, Konflikte zu schlichten, die erst durch das Kobaltfieber nach Kolwezi gelangt waren. Angezogen von der trügerischen Aussicht auf raschen Reichtum, kamen Angehörige völlig verschiedener Volksgruppen in die Stadt, was immer wieder in Gewalt ausartet. In einer Berufsschule der Schwestern finden zudem Mädchen Hilfe, die von Schürfern aufs Ärgste missbraucht worden waren. Denn die Gier, der Rausch und die Drogen, die manche in die Schächte steigen lassen, arten allzu oft in grausamen Exzessen aus.

Wem all das gelingt, der bringt neben Gottvertrauen auch eine gehörige Portion Mut mit. Denn weder sehen es die „Sponsoren“ gern, wenn ihnen Kinder als billigste Arbeitskräfte abhandenkommen. Noch haben Polizei und Behörden in Kolwezi eine Freude damit, dass das Engagement der Schwestern für internationale Aufmerksamkeit sorgt. Wer die wahre Geschichte hinter dem Kobalt kennt, zieht die Erzählung von unser aller „grünen Zukunft“ in Zweifel. „Wäre es also besser, wenn wir schwiegen“, fragt Schwester Jane. „Das können wir nicht. Wir wollen die Stimme der Stummen sein, denn das, was an diesem Ort geschieht, schreit förmlich zum Himmel. Es reicht jedoch nicht, nur hinzuschauen und es zu beklagen, man muss auch etwas dagegen und für die Menschen hier tun.“

Längst ist Schwester Jane von der Ordensoberin auch zur taffen Managerin geworden. Sie und ihre acht Mitschwestern beschäftigen mittlerweile 102 Angestellte. Gemeinsam versuchen sie, einem Ort Perspektiven zu geben, dessen einzige bislang tief unter der Erde lag. „Es ist aber nicht genug, dass Kinder nun zur Schule gehen“, sagt Schwester Justicia, eine junge, quirlige Kenianerin, die seit drei Jahren in Kolwezi ist. „Genauso wichtig ist es, dass deren Eltern auf andere Art an Einkommen gelangen, denn sonst werden sie über kurz oder lang ihre Kinder von der Schule nehmen und erneut mit ihnen in die Minen gehen.“

Alternative zum Kobalt: Einkommen aus der Landwirtschaft
Alternative zum Kobalt: Einkommen aus der Landwirtschaft

Eine Farm zum Leben

Da es die Schwestern ungern beim Reden belassen, handelten sie erneut und gründeten Chakuishi – übersetzt, die Nahrung zum Leben. In einem Land wie dem Kongo, wo die Hälfte der Kinder unterernährt ist und selbst einfache Grundnahrungsmittel überteuert aus dem Ausland importiert werden müssen, schufen die Schwestern eine Farm nur für Frauen: 40 Hektar an Feldern, 12 Fischteiche und ein Kleinkreditmodell, das einen Ausstieg aus der Ausbeutung ermöglicht. Stolz zeigt Schwester Jane die Bananen und Bohnen, den Spinat und den Mais sowie das Gemüse, das auf den Äckern gedeiht, die von 1.500 Frauen bewirtschaftet werden. „Sie sind es, die in den Minen am gefährdetsten sind“, sagt Schwester Jane, „doch da die meisten von ihnen weder lesen noch schreiben können, blieb ihnen bislang keine Alternative zum Kobalt. Geben wir sie ihnen, retten wir so auch ihre Kinder. Bei den Frauen anzusetzen, macht Sinn, denn sie sind verantwortungsvoller. Sie setzten einen Schritt nach dem anderen und lassen dabei ihr Ziel nie aus dem Auge.“ Damit haben sie viel gemein mit den Schwestern vom Guten Hirten.

Lesen Sie hier Teil 1: In tiefen Abgründen