Im Schweiße ihrer Jugend

Jorge arbeitete jeden Tag bis zu zehn Stunden in den Kohleminen von Amagá. Dabei ist der gebürtige Kolumbianer erst fünfzehn Jahre alt. Angst hatte er in den dunklen Gängen keine. Aber tauschen möchte Jorge mit den oft viel zu jungen Minenarbeitern nicht mehr.

KinderarbeitMit einem Quietschen setzt sich der improvisierte Grubenhund in Bewegung. Die alten Räder knarren auf den engen Schienen. Steil bergab führen sie über einen schlammigen Bach hinweg auf ein rostiges Wellblechdach zu. „Beim fünften Mal hat man dann keine Angst mehr“, sagt Jorge mit einem ermutigenden Lächeln auf seinen Lippen. So richtig will man das dem aufgeweckten 15-Jährigen nicht glauben. Immerhin führen die Schienen geradewegs in eine der vielen aufgelassenen Minen von Amagá im Bergland Kolumbiens. Unweit von der berühmt-berüchtigten Anden-Metropole Medellin gelegen, die lange Zeit das Attribut „gefährlichste Stadt der Welt“ trug, wird seit Jahrzehnten Kohle abgebaut – zumeist unter gefährlichen Bedingungen. Das sei eine sichere Mine, gibt sich Jorge zuversichtlich, während wir im dunklen, engen Schacht immer tiefer ins Erdinnere vordringen: „2007 verunglückten in dieser Mine nur vier Menschen – zwei wurden verschüttet, die anderen beiden erstickten.“ Offiziell existiert dieser Stollen nicht mehr. Da der Kohlebergbau in der Region schon länger nicht mehr rentabel war, schloss die Regierung die meisten der Minen und versuchte die Bergarbeiter für landwirtschaftliche Tätigkeiten umzuschulen.

Jorge

„Beim fünften Mal hat man dann keine Angst mehr!“ (vor der steilen Einfahrt in die dunkle Mine)

Jorge, 15

Immerwährender Frühling

KinderarbeitEin naheliegender Gedanke, denn die Vegetation in Antioquia ist üppig und das Klima ideal. Medellin wird nämlich weithin bekannt für ihren „immerwährenden“ Frühling gepriesen. Aber die Bevölkerung ging auf das Angebot nicht ein: „Wir sind Bergarbeiter, keine Bauern“, betont Jorge stolz. Der Grubenhund stoppt plötzlich. Wir steigen aus und holen tief Luft. Es ist unsagbar heiß und stickig hier unten, dreißig Meter unter der Erdoberfläche. Durch alte Plastikschläuche wird Luft in den Stollen gepumpt, der zu niedrig ist, um aufrecht darin stehen zu können. Zwei ältere Arbeiter sitzen unter einer Gaslampe und rasten sich aus. Jorge begrüßt sie, erklärt ihnen unseren Besuch. Die Arbeiter scheinen ihn gut zu kennen. Vor einigen Monaten musste der Bursche noch jeden Tag selbst hier herunter kommen: als viel zu junger Minenarbeiter. Zum ersten Mal nahm ihn sein Onkel mit in den Berg. „Damals war ich zwölf Jahre alt“, erinnert er sich. Zuerst war er vor allem für die Verpflegung der Arbeiter zuständig. Er brachte ihnen Essen und Getränke. Auf seinen Fahrten mit dem Grubenhund nahm er auch die Kohlesäcke mit nach oben. Später baute er das schwarze Gestein selbst ab. „Das ist anstrengender, aber man verdient ein wenig mehr“, erklärt er, während wir in geduckter Haltung tiefer in den Stollen vordringen. Die Hitze nimmt zu. Der dunkle Gang verschmälert sich. Immer wieder bückt sich Jorge nach unten. In seiner rechten Hand hält er eine Kerze, mit der er den Sauerstoffgehalt überprüft. Erlischt die Flamme, herrscht akute Lebensgefahr. Nach wenigen Minuten biegen wir um eine Ecke und dann sehen wir sie: Mit alten Spitzhacken schlagen sie auf das schwarze Gestein – junge Hände, noch keine fünfzehn Jahre alt.

Mit Hammer und Meisel

KinderarbeitAls sie uns sehen, unterbrechen sie ihre Arbeit kurz, grüßen Jorge schüchtern. Einer wischt sich noch rasch den Schweiß von der Stirn, bevor er wieder zu Hammer und Meisel greift. Dann setzt das monotone Hämmern abermals ein. Der Plansoll muss erreicht werden: da bleibt keine Zeit für ungeplante Pausen. Zur Arbeit gezwungen werden die Kinder zumeist nicht. Der Großteil kommt aus armen Familien. Durch den Bergbau tragen die Jugendlichen etwas zum ohne- dies meist kärglichen Familieneinkommen bei und verdienen sich ein wenig eigenes Geld. Zwischen acht und zehn Stunden verbringen die Arbeiter, egal ob jung oder alt, unter Tage. Manche Kinder besuchen in der Früh die Schule und kommen erst nach dem Mittagessen in die Mine. „Eine Zeit lang nahm ich auch am Unterricht teil“, erzählt Jorge. Das gab er aber bald auf, denn: „Ich war durch das viele Arbeiten immer so müde, dass ich mich am nächsten Morgen sowieso nicht konzentrieren konnte.“ Er entschied sich gegen die Schule und begann ganztags zu arbeiten. Da verdiene man auch mehr, so Jorge. Aber nicht nur seine Ausbildung litt unter der Minenarbeit: „Wenn ich nach Hause kam, war ich so geschafft, dass ich mich nur mehr auf mein Bett fallen lassen konnte und dann bin ich gleich eingeschlafen.“Für seine große Leidenschaft blieb keine Gelegenheit. Dabei träumte Jorge schon lange davon, einmal als Fußballprofi Geschichte zu schreiben. Gemeinsam mit anderen Kindern aus Amagá hatte er sich früher fast jeden Tag zum Spielen getroffen. Er sei ein guter Mittelfeldstürmer, ist der junge Kolumbianer überzeugt. Noch immer ist er wegen seiner ehemaligen Arbeit ein wenig aus der Übung. Aber Jorge trainiert wieder regelmäßig. Nur sein Kreuz macht ihm beim Laufen oft zu schaffen: Rückenleiden sind typische Folgeschäden der schweren, meist in gebückter Haltung verrichteten Arbeit unter Tage. Jorge respektiert die Bergbauarbeiter. Er weiß, was sie leisten. Wenn er erwachsen ist, möchte er allerdings nicht wie sein Onkel in den Minen arbeiten. Selbst wenn das mit der Fußballkarriere nichts werden sollte. Seit einigen Monaten hat Jorge neue Perspektiven für sein Leben kennen gelernt: „Ich werde meine Schulbildung abschließen und versuchen, in Medellin einen Job zu bekommen.“ Dort gebe es nämlich ziemlich gute Fußballclubs. Außerdem hat Jorge als gelernter Tischler beste Aussichten auf eine reguläre Anstellung. „Die Arbeit mit Holz ist leichter als unten in der Mine Kohle abzubauen – und besser bezahlt“, lacht Jorge, als wir aus der Tiefe zurück ans Tageslicht kehren und tief durchatmen.

Kinderarbeit

„Das liebevolle Umfeld, das gelebte Beispiel sind die wichtigste Bildung. Der Glaube ist die Grundlage.“

Pater Armando

Hoffnungsschimmer

Kinderarbeit

Kennen gelernt haben wir den 15-Jährigen am Dorfrand von Amagá, in einer Ausbildungsstätte der Salesianer. Pater Armando Alvarez ist der verantwortliche Leiter des Projektes, das bereits vielen Kindern und Jugendlichen half, eine Zukunft abseits der Kohleminen zu finden. „Wir haben viele Burschen wie Jorge in unserem Programm“, erklärt der Ordenspriester das Projekt „Aktion Freundschaft“ und: „Wir zeigen ihnen neue Wege für ihr Leben.“ Bereits seit vierzig Jahren sind die Salesianer Don Boscos in Medellin und der umliegenden Region Antioquia tätig. Die Brüder und ihre ehrenamtlichen Mitarbeiter vor Ort gehen oft in die Minen, um Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren in das nahe gelegene Jugendzentrum in Amagá einzuladen. Dort können die jungen Arbeiter ihre Freizeit mit Spiel und Sport verbringen. Gut ausgebildete Sozialarbeiter und Priester hielten den Jugendlichen an, über ihr Leben und ihre Familiensituation zu sprechen. Die Gewalt in den Familien sei hier besorgniserregend hoch, so Pater Armando, eine psychologische Betreuung der Kinder oft absolut notwendig. Sobald die Kinder Vertrauen gefasst haben, wird versucht, sie wieder in das lo- kale Schulsystem zu integrieren. Ältere Jugendliche, die bereits über das Pflichtschulalter hinaus sind, können Kurse in Landwirtschaft, Schneiderei, Tischlerei, Metigt auch Jorge: „Zu Hause habe ich höchstens am Abend etwas zu essen bekommen.“ Wenn er tagsüber hungrig war, musste er sich selbst etwas organisieren. Kein Einzelfall wie Pater Armando zu bedenken gibt. Viele Kinder sind sozial verwahrlost, unter- oder zumindest schlecht ernährt und in vielen Belangen auf sich selbst gestellt.

Einen Lebenssinn vermitteln

KinderarbeitDeshalb sei es zu wenig, den Kindern lediglich eine Ausbildung zu ermöglichen, ist der Salesianer überzeugt: „Wir versuchen auch, ihnen einen Sinn für ihr Leben zu vermitteln.“ Die Jugendlichen werden von den Ordensmitgliedern spirituell begleitet, Glaube und kulturelles Wissen spielen eine wichtige Rolle. So begeistern Jorge vor allem die wöchentlichen Ausflüge nach Medellin zur Stadtbibliothek. Zwischen Büchern, CDs und Videokassetten könne er für ein paar Stunden „einfach abschalten“. Bei dieser Gelegenheit wird meistens ein Abstecher ins örtliche Krankenhaus gemacht: so erhalten die Kinder gleich professionelle medizinische Betreuung. Seinen Rücken hatte sich ein Arzt bereits angesehen, erzählt Jorge, aber wirklich helfen konnte dieser ihm auch nicht. „Mehr Sport soll ich machen“, hätte der Mediziner gesagt. Jetzt spielt er eben umso mehr Fußball mit seinen Freunden aus dem Tischlereikurs. Am Vormittag besucht er die Schule: Jorge will seine Pflichtschulausbildung beenden. Am Nachmittag widmet er nun seine Zeit Stühlen, Regalen und einfachen Kästen, die er bereits selbst herstellen kann. „Mit dem Hobel bin ich noch ein wenig ungenau“, gibt der 15-Jährige zu, aber das werde er bis zum Ende des Kurses auch noch richtig lernen. In acht bis zehn Monaten möchte Jorge seine Tischlereilehre abgeschlossen haben. Viel länger wird auch die Schule nicht mehr dauern.

Ein offenes Ohr für die Jugend

Kinderarbeit„Dann suche ich mir einen richtigen Job!“, strahlt der Bursche, während er uns gemeinsam mit Pater Armando durch die Ausbildungsstätte in Amagá führt. Es sind schlichte Häuser, in denen die Jugendlichen unterrichtet werden, aber die Räume sind sauber und aufgeräumt. Die Maschinen für die Ausbildung sind nicht neu, jedoch sehr gut gewartet. Jorge und seine Kollegen kommen gerne ins Salesianerzentrum, nicht zuletzt deshalb, weil man hier für sie ein offenes Ohr hat. Die Brüder seien immer besonders freundlich und auch die anderen Mitarbeiter mag Jorge: „Die stehen hinter uns, das spüren wir.“ Pater Armando freut es, wenn er solche Komplimente hört. Das ist nicht selbstverständlich: „Wenn die Kinder zu uns kommen, sind sie zumeist sehr verschlossen. Dankbarkeit müssen viele erst erlernen.“ Pater Armando bleibt in der Halle mit den Drechselmaschinen stehen, zeigt lächelnd auf die Wand. Dort hängt ein Holzkreuz mit einem Korpus aus Metall. Die Schüler des aktuellen Kurses haben es in Eigenregie entworfen und hergestellt. „Der Glaube“, erklärt Pater Armando weiter, „ist die Grundlage für unsere Arbeit.“ Nach dem Vorbild des heiligen Don Boscos möchte er den Jugendlichen Geborgenheit, neue Perspektiven und damit eine lebenswerte Zukunft bieten. „Das liebevolle Umfeld, das gelebte Beispiel sind die wichtigste Bildung“, gibt sich der Priester überzeugt. Auch Jorge nickt zustimmend. Wenn er erst einmal eine „richtige“ Anstellung gefunden hat, möchte er in seiner Freizeit Pater Armando helfen. „In den Minen von Amagá“, sagt Jorge, „sollen in Zukunft keine Kinder mehr sterben müssen.“

 

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