Moderne Sklaverei braucht keine Ketten

Trotz offiziellen Verbots der Sklaverei in allen Staaten der Erde sind moderne Formen der Sklaverei wie Menschenhandel, Zwangsarbeit, Schuldknechtschaft, Kindersoldaten und Zwangsprostitution ein Massenphänomen des 21. Jahrhunderts. Betroffen sind Millionen von Menschen, besonders die schwächsten Glieder der Gesellschaft: Frauen und Kinder.

Moderne Sklaverei

Die zwölfjährige Veeramani lebt in Laxmipuram, einem Dorf im indischen Bundesstaat Andhra Pradesh, in der Obhut ihrer Tante. Eine Schule hat sie nie besucht. Ein schimpfender und schlagender Aufseher zwingt sie, zwölf Stunden am Tag auf dem Feld eines Bauern hart zu arbeiten. Veeramani muss die Schulden ihres Vaters begleichen. Diese betragen 5000 Rupien, umgerechnet etwa 80 Euro. Ihren Vater hat Veeramani nie gekannt, denn er verließ seine Frau, als sie mit dem Mädchen schwanger war. Auch an ihre Mutter hat Veeramani nur vage Erinnerungen. Diese rannte mit einem anderen Mann weg. Zurück blieb das Mädchen, mittel- und schutzlos. Ein typisches Opfer moderner Sklaverei, eines von rund 200 Millionen weltweit.

Der lange Kampf gegen Sklaverei

Artikel 4 der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UNO“ von 1948 besagt: „Niemand darf in Sklaverei oder Leibeigenschaft gehalten werden; Sklaverei und Sklavenhandel sind in allen ihren Formen verboten.“ Das war nicht das erste Verbot der Sklaverei, zu dem sich Staaten bekannten. Großbritannien schaffte die Sklaverei in den indischen Kolonien bereits 1761 ab. Auf dem Wiener Kongress drängte man 1815 auf ein grundsätzliches Verbot des afrikanischen Sklavenhandels. Erst 1834 erklärte der „Slavery Abolition Act“ alle Sklaven im britischen Kolonialreich für frei. In Frankreich wurde die Sklaverei zwar 1794 in der Französischen Revolution verurteilt, allerdings erst 1848 in der Zweiten Republik als Verbot verfassungsmäßig festgeschrieben. Ein weiterer Meilenstein war die 1855 erfolgte Ratifizierung des 13. Zusatzes zur US-amerikanischen Verfassung, durch die die Sklaverei formell verboten wurde. Dennoch existierten Abkommen, die den europäischen Mächten den Einsatz von Zwangsarbeit in ihren Kolonien ermöglichten. Als die Sklaverei 1948 im vierten Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte erneut verboten wurde, zeigte dies kaum Wirkung. Deshalb unterzeichneten 1956 vierzig weitere Staaten in Genf ein Abkommen zur Abschaffung der Sklaverei. Heute ist Sklaverei in keinem Staat der Welt mehr legal. Die skrupellose Unterwerfung und Ausbeutung von Menschen ist damit leider aber nicht abgeschafft.

Neue Formen der Knechtschaft

Moderne Sklaverei

Sklaverei ist wandlungsfähig. Heute existiert sie unter anderen Namen, wie beispielsweise Schuldknechtschaft, Zwangsarbeit, Vertragssklaverei, unbezahlte Kinderarbeit, Kindersoldaten oder Zwangsprostitution. Formal gesehen sind die modernen Sklaven freie Individuen. Doch in existentiellen Notlagen und aufgrund falscher Versprechungen werden Menschen zu Opfern von Sklavenhaltern. Manchmal wird Sklaverei sogar vererbt, wie es bei der eingangs erwähn- ten zwölfjährigen Veeremani der Fall ist. Der US-amerikanische Soziologe Kevin Bales gilt als weltweit führender Experte für Sklaverei. Gemäß seiner Definition ist die moderne Sklaverei die vollkommene Unterwerfung eines Menschen gegen seinen Willen unter Einsatz von Gewalt zum Zwecke der Ausbeutung. Die fehlende rechtliche Grundlage ist für Sklavenhalter sogar von Vorteil. So kann er Sklaven völlig seiner Kontrolle unterwerfen, ohne eine wie immer geartete Verantwortung übernehmen zu müssen. Da die „Ware Mensch“ im Überschuss vorhanden ist, sind Sklaven sehr günstig zu haben. Für den Sklavenhalter stellen sie keinen großen Investitionswert mehr dar – eine schonende Behandlung rechnet sich nicht. Seinen Sklaven vor Krankheit zu schützen, hat für den Sklavenhalter keinen Sinn. Es ist billiger, sie sterben zu lassen: Für Nachschub an potentiellen Sklaven ist gesorgt. Die moderne Sklaverei braucht keine Ketten mehr – die Instrumente zur Aufrechterhaltung der Macht sind subtiler geworden: Gewalt, Entwendung von Dokumenten, Bedrohung der Familien im Heimatland und Abhängigkeit von Drogen schaffen ein grausames System von Zwängen, aus dem es kaum ein Entrinnen gibt.

Papst Leo XIII

„Es ist nicht gottgewollt, dass Einheimische aus ihren Dörfern und ihren Lebensräumen gerissen und in andere Erdteile verschleppt werden.“

Papst Leo XIII.

Boom-Geschäft mit der Ware Mensch

Moderne Sklaverei

Das Geschäft mit der Sklaverei findet im Verborgenen, meist im Bereich des organisierten Verbrechens statt. Neben Waffen und Drogen wird die „Ware Mensch“ am stärksten nachgefragt. Moderne Kommunikationsmittel erleichtern den globalen Handel. Der Anteil von Frauen und Kindern ist disproportional hoch. Eingesetzt werden sie in der Landwirtschaft, als Bauarbeiter, als Soldaten, in der Textilindustrie, als „Haushaltshilfen“ oder im Pflegedienst. Am häufigsten landen gehandelte Menschen in der Prostitution. Überwiegend verschleppen die Menschenhändler die Sklaven ins Ausland, zumeist in ein Nachbarland. In einer Studie des Beobachtungszeitraumes von 2005 bis 2007 identifiziert das United Nations Office on Drugs and Crime (UNODC) die Haupthandelsrouten des interkontinentalen Menschenhandels: Afrikaner und Südamerikaner werden in der Regel nach Nordamerika verkauft. In Europa versklavte Menschen stammen vorwiegend aus Zentral- und Osteuropa sowie aus Zentralasien. Südasiaten werden im Mittleren Osten nachgefragt. Ein besonderes Phänomen ist der Handel mit ostasiatischen Sklaven: Diese werden in 20 Staaten der Erde gehandelt.

Schlepperei und Menschenhandel

Kinderarbeit

Richtig ist die Unterscheidung zwischen „Schlepperei“ und „Menschenhandel“. Bei Schlepperei handelt es sich um einen freiwilligen, aber illegalen Transport von Personen in ein anderes Land. Menschenhandel hingegen basiert auf Zwang oder der Vorspiegelung falscher Tatsachen. Im Bestimmungsland beginnt erst die tatsächliche Ausbeutung. Für Nike etwa klang das Job-Angebot als Haushaltshilfe in Österreich nur allzu verlockend. Auch wenn ihr der Bekannte nicht genau sagen konnte, wie viel sie verdienen würde, sah sie darin eine große Chance, Deutsch zu lernen. Mehr als in der Ukraine würde sie wohl allemal verdienen. In Wien landete sie bei einer Familie, die ihre Arbeitskraft 24 Stunden am Tag beanspruchte. Als Schlafplatz wurde ihr ein winziger Raum mit einem kleinen Kippfenster zugewiesen. Die Reisedokumente und den Personalausweis nahm ihr der Familienvater ab. Zwar verdiente sie ein wenig Geld, aber über einen Hungerlohn ging dieses Einkommen nicht hinaus. Zudem wurde ihr für das Essen Geld vom Lohn abgezogen. Zur Ausbeutung kamen ständige Kontrollen und Misshandlungen dazu. Wenn sie einen „Fehler“ machte, wurde sie eingesperrt – tagelang bekam sie dann nichts zu essen. In Wien nimmt sich etwa der Verein „EXIT“ um Menschen wie Nike an. Die nigerianische Autorin Joana Adesuwa Reiterer gründetete ihn 2006. Ihre Arbeit wird durch die Tatsache erschwert, dass die als Ware gehandelten Frauen das Unrecht, in das sie geraten sind, oft gar nicht benennen können. Sie sind ver- ängstigt und schon allein aufgrund der sprachlichen Defizite oder einer fehlenden Aufenthaltsgenehmigung auf Hilfe von außen angewiesen. Die Mitarbeiter von EXIT klären sie über ihre Rechte auf und vertreten sie – so gewünscht – auch vor Behörden.

Bedrohungen durch Menschenhändler

Moderne Sklaverei

Armut und Perspektivenlosigkeit im Heimatland sowie Orientierungslosigkeit im Zielland sind bestimmend für die unheilvolle Spirale von Missbrauch und Gewalt, die Menschen zu Opfern von Ausbeutern macht. Die Mehrheit der Länder, in denen Fälle von Sklaverei auftreten, zeichnen sich aus durch ein hohes Bevölkerungswachstum und einen eingeschränkten Zugang zur Bildung – vor allem für Mädchen. Oft sind diese Länder durch kriegerische Konflikte oder Naturkatastrophen gezeichnet – politische Instabilität und Korruption sind die Folge.
Daneben gibt es auch kulturelle Gründe, die Sklaverei begünstigen: In vielen traditionellen Gesellschaften ist die soziale Stellung der Frau sehr gering. Daher sind sie eher bereit, große Risiken auf sich zu nehmen, um Zuständen der Unterdrückung und der familiären Gewalt zu entkommen. Auch Kinderarbeit wird in vielen Gesellschaften als normal betrachtet. So ist es mancherorts Brauch, junge Mädchen bei entfernten Verwandten aufwachsen zu lassen. Aber nicht nur die Ursprungsländer tragen zu den unter- schiedlichsten Ausprägungen moderner Sklaverei bei. Auch die westlichen Abnehmerländer tragen Verantwortung. Eine ständig wachsende Nachfrage nach billigen Arbeitskräften und Sexsklavinnen trägt wesentlich zum unheilvollen Geschäft bei. Letztere werden vornehmlich in ärmeren Ländern „rekrutiert“.

Nachfrage bestimmt das Angebot

Moderne Sklaverei

Die Kunden wollen die gewünschte Leistung für möglichst wenig Geld haben. Die Tatsache, dass Frauen zur Sexarbeit gezwungen werden, ist ihnen entweder nicht bewusst oder auch egal. Der strafrechtliche Tatbestand des Menschenhandels ist schwer zu beweisen, was zu einer hohen Zahl an Verfahrenseinstellungen führt. Bei Prozessen wird häufig auf andere Paragraphen, wie etwa „Grenzüberschreitender Prostitutionshandel“, ausgewichen. Auch fragt der westliche Durchschnittskonsument nicht, warum eine Jeans oder Schuhe so wenig kosten. Kaum jemand macht sich Gedanken darüber, unter welchen Bedingungen die Billigangebote im Supermarkt hergestellt worden sind.
Gemeinhin würde man annehmen, dass Menschenhändler Männer sind. Umso mehr überrascht der Bericht des UNODC, demzufolge Frauen die Hauptakteure sind. Vor allem im Bereich der Zwangsprostitution sind über- wiegend Frauen die Täter. Die meisten von ihnen waren zuvor selbst Opfer. Hat etwa ein Mädchen, das zur Prostitution gezwungen worden ist, erst einmal seine „Schulden“ abbezahlt, kontrolliert es oft für eine andere „Madame“ deren Mädchen, bis es genug Geld hat, um selbst welche zu kaufen. Nigerianische Sexsklavinnen berichten vom sogenannten „Osusu“ – einer Art „Bausparen für Menschenhändlerinnen“. Dabei zahlen mehrere Mesdames regelmäßig in einen gemeinsamen Topf ein. Wenn 10.000 Euro zusammengekommen sind, kann eine sich ein neues Mädchen bestellen.

Gegen die Menschen und Gott sündigen

Moderne Sklaverei

Als Papst Johannes Paul II. 1992 die vor der Küste Dakars gelegene Sklaveninsel Gorée besuchte, bekannte er in seiner Rede: „In aller Demut und Wahrheit muss diese Sünde des Menschen gegen den Menschen, diese Sünde des Menschen gegen Gott eingestanden werden. Wie lang ist doch der Weg, den die Menschenfamilie gehen muss, bevor ihre Glieder es lernen, sich als Ebenbilder Gottes zu erkennen und zu achten, um sich schließlich als Söhne und Töchter eines einzigen himmlischen Vaters zu lieben?“ Die frühe Kirche hat die Sklaverei als Institution nicht politisch bekämpft. Das Phänomen der antiken Sklaverei lässt sich auch nicht direkt mit neuzeitlichen Formen in Nordamerika oder in den Kolonialländern vergleichen. Der Brief des Apostels Paulus an Philemon zeigt, dass Paulus mit dem alltäglichen Umgang zwischen Sklaven, Sklavenhaltern und Außenstehenden vertraut war. Er akzeptiert die Bestimmung, dass ein Herr seinen Sklaven zur Ertragssteigerung brauche. Dieses ökonomische Verhältnis durfte nicht einfach durch Dritte gestört werden, besonders dann nicht, wenn es sich um entlaufene Sklaven handelt. Ein entlaufener Sklave musste umgehend zu sei- nem Herrn zurückkehren. Paulus aber bittet nun Philemon, Onesimus nicht mehr als seinen Sklaven zu betrachten, sondern stattdessen als geliebten Bruder.

Performative Kraft des Evangeliums

In seiner zweiten Enzyklika SPE SALVI facti sumus (auf Hoffnung hin sind wir gerettet) erläutert Papst Benedikt XVI., dass das Christentum keine sozialrevolutionäre Botschaft brachte, sondern etwas ganz anderes: Es gestaltete die Gesellschaft von innen heraus um, indem es Menschen, die sich ihrem zivilen Status nach als Herren und Sklaven gegenüberstanden, in Christus durch die Taufe zu Brüdern und Schwestern machte. Die befreiende Botschaft lautete: „Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau; denn ihr alle seid „einer“ in Christus Jesus“ (Gal 3,28).

Papst Leo XIII. widmete dem Thema Sklaverei 1890 die Missionsenzyklika „Catholicae Ecclesiae“. Darin richtete er sich an die katholischen Missionare in Afrika. Weil Sklaverei mit der Würde des Menschen, der von Gott nach seinem Ebenbild geschaffen wurde, unvereinbar ist, rief er zur vollständigen Aufhebung der Sklaverei auf. Er bat Gläubige auf der ganzen Welt um finanzielle Unterstützung. Die Mittel stellte er der „Kongregation zur Verbreitung des Glaubens“, heute „Kongregation zur Evangelisierung der Völker“ (Päpstliche Missionswerke), zur Verfügung. Von ihr wird seit damals das gesammelte Geld gerecht an jene Missionsstationen verteilt, wo die Not am größten ist. So wird das „Phänomen Sklaverei“ erfolgreich eingedämmt. Die missionarischen Gesellschaften haben herausragende Figuren wie Petrus Claver und Daniel Comboni hervorgebracht. Eine besondere Rolle kommt auch dem „Päpstlichen Kindermissionswerk“ zu. Seit seiner Gründung 1843 arbeitet es gegen die Versklavung von Kindern. Schon in den Anfangsjahren konnte es in Afrika viele Kinder freikaufen. Dieses Gründungscharisma ist auch im aktuellen Kampf gegen den Einsatz von Kindersoldaten im Kindermissionswerk präsent. Dank des beherzten Einsatzes des Jesuitenpaters Peter Daniel gut geht es auch Veeramani gut. Für umgerechnet 80 Euro kaufte er das Mädchen frei. Die Kirche ermöglichte ihr den Schulbesuch. Weil Veeramani überdurchschnittliche Leistungen erbrachte, erhielt sie ein Stipendium. Heute ist Veeramani verheiratet und arbeitet als Krankenschwester in Vijaywada. Monatlich verdient sie 4500 Rupien, jener Betrag, der sie zu einem lebenslangen Dasein als Arbeitssklavin verurteilt hätte.

 

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